Ist Ungarn noch ein Rechtsstaat? Die Frage ist seit dem Regierungswechsel 2010 vermehrt aufgekommen. Damals errang der konservative Viktor Orbán bei den Wahlen mit seiner Fidesz-Partei eine Zweidrittel-Mehrheit. Seitdem sind eine neue Verfassung und ein Mediengesetz verabschiedet worden, die international auf Kritik gestoßen sind. Der Vorwurf: Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit würden durch die neuen Gesetze ad absurdum geführt. Aber treffen diese Vorwürfe zu, ist Ungarn schon auf dem Weg in totalitäre Verhältnisse?
Das Wichtigste vorweg: Ungarn ist nach wie vor eine Demokratie. Die Wahlen sind frei und Gesetze werden im Parlament demokratisch beschlossen. Dennoch gibt es Maßnahmen, die geeignet sind, die Macht der jetzigen Regierung über ihre aktuelle Amtszeit hinaus zu festigen und damit dem Sinn von Demokratie zuwiderlaufen.
Ein Instrumentarium dieser Machtfestigung ist das im Jahr 2010 neu verabschiedete Mediengesetz, das Journalisten zu einer ausgewogenen Berichterstattung verpflichtet. Das mag der Selbstanspruch vieler Medien sein, problematisch ist allerdings, dass eine neu geschaffene Medienbehörde Maßnahmen ergreifen kann, wenn aus ihrer Sicht die Berichterstattung nicht ausgewogen war. Geldbußen bis zu einer Höhe von 90.000 Euro können etwa gegen Print- und Online-Medien verhängt werden. Die Konsequenz dessen ist vorauseilender Gehorsam vieler Medien aus Angst vor einen Strafzahlung. Innerhalb der Medienbehörde ist ein Medienrat für die Kontrolle der Medien zuständig, der derzeit ausschließlich mit Vertretern der Regierungspartei Fidesz besetzt ist. Der Einfluss der Regierung auf die Medien ist daher enorm hoch. Weiterhin können Journalisten verpflichtet werden, ihre Quellen offenzulegen, offiziell zum Schutz der nationalen Sicherheit. Diese Einschränkung von Redaktionsgeheimnis und Informantenschutz stellt einen weiteren Eingriff in die Pressefreiheit dar, da investigative Berichterstattung so verhindert wird: Welcher Informant vertraut sich schon einem Journalisten an, wenn er damit rechnen muss, enttarnt zu werden? In der Rangliste der Pressefreiheit von „Reporter ohne Grenzen“ ist Ungarn von Platz 17 (2007) bzw. 23 (2010) auf Rang 56 im Jahr 2013 abgerutscht.
Weiterhin problematisch ist die im Jahr 2011 verabschiedete neue Verfassung, das Ungarische Grundgesetz. Bereits die rechtsverbindliche Präambel ist ideologisch aufgebläht, sie stellt Rückbezüge zum Heiligen Stephan und der ungarischen Krone her und bezieht sich ausdrücklich auf die „Mitglieder der ungarischen Nation“. Dieser Bezug auf die nationale Identität allein ist problematisch, schließt er doch in Ungarn lebende Menschen anderer Herkunft aus und außerhalb Ungarns lebende Menschen ungarischer Herkunft ein, und das unabhängig von ihrer offiziellen Staatszugehörigkeit. Das Grundgesetz erhebt damit den Anspruch, beispielsweise auch für die in Siebenbürgen lebenden Menschen ungarischer Herkunft gültig zu sein, obwohl sie rumänische Staatsbürger sind.
Die Verfassung sieht die Gründung eines Haushaltsrates vor, der in Budgetfragen Gesetzen zustimmen muss. Damit wird die Souveränität des ungarischen Parlamentes beeinträchtigt, da es nicht mehr allein über Finanzfragen bestimmen kann, sondern die Zustimmung des Haushaltsrates benötigt. Die Mitglieder dieses Rates sind länger als eine Legislaturperiode im Amt und können durch Vetos die Arbeit einer Nachfolgeregierung behindern.
Eine weitere Einschränkung der parlamentarischen Souveränität stellt die sogenannte Zweidrittel-Regelung dar: Sie legt fest, dass bestimmte Gesetze vom Parlament nur mit einer Zweidrittel-Mehrheit geändert werden können. Das ist für die aktuelle Fidesz-Regierung kein Problem, verfügt sie doch über eine solche Mehrheit. Sie wird aber für zukünftige Regierungen ein Hindernis sein: Der Einfluss von Regierungen ohne Zweidrittel-Mehrheit wird gering sein. Ein solches Vorgehen ist rechtsstaatlich zwar zulässig, aber trotzdem fragwürdig, weil es dem Sinn von Demokratie zuwiderläuft. Die Zweidrittel-Hürde ist nicht umsonst in den meisten Demokratien allein der Verfassung vorbehalten.
Weitere Änderungen gibt es beim Verfassungsgericht: Die Anzahl der Verfassungsrichter wurde von elf auf 15 erhöht, auch ihre Amtszeit wurde verlängert. Gleichzeitig wurde das Renteneintrittsalter gesenkt. Die Maßnahme wirkt harmlos, hat aber einen politischen Hintergrund: Um unliebsame, noch vor Beginn der Amtszeit Orbáns eingesetzte Verfassungsrichter loszuwerden, wurde das Rentenalter gesenkt. Weil man damit aber nicht alle ungewollten Personen aus dem Gericht entfernen konnte, wurde die Richteranzahl noch erhöht, um ihren Einfluss einzuschränken.
Ungarn ist eine Demokratie und auch nach wie vor ein Rechtsstaat. Allerdings gibt es einzelne Entwicklungen, die sowohl demokratischen als auch rechtsstaatlichen Grundsätzen widersprechen. Der Umfang dieser Verstöße ist jedoch nicht so groß, dass man Ungarn nicht mehr als Rechtsstaat bezeichnen könnte. Es wird zu beobachten sein, inwiefern sich Entwicklungen verschärfen und ob es in der verbleibenden Regierungszeit Orbáns weitere Reformen geben wird, die rechtsstaatliche oder demokratische Prinzipien verletzen. Die Entwicklung in Ungarn ist keinesfalls positiv zu beurteilen, jedoch sind Demokratie und Rechtsstaat derzeit noch nicht außer Dienst gesetzt. Ob dies auch zukünftig so sein wird, bleibt abzuwarten. Die Mitgliedschaft Ungarns in der Europäischen Union setzt gewissen Tendenzen jedoch Grenzen.
geschrieben im Dezember 2013 – der Text basiert auf dem Essay Rechtsstaat a.D.? – auch verfügbar als pdf