Kein Berlin verstehen

In Berlin herrscht Wahlkampf, Wahlplakate zieren das Berliner Stadtbild. An Quantität mangelt es dabei keinesfalls. Aber die Qualität lässt oftmals zu wünschen übrig.

Wo echte Inhalte fehlen, da müssen unsachliche Sprüche her. Wer derzeit durch Berlin fährt, läuft, schlendert und sich über konkrete politische Zielsetzung der sich im Wahlkampf befindenden Parteien informieren will, bleibt meist im Unklaren. So wirbt die FDP derzeit mit Aussagen wie: “Warum teilt die FDP nicht den Traum einer autofreien Stadt – weil keine Frau mit dem Fahrrad zum Kreißsaal gefahren werden möchte”. Nicht viel besser: Die Grünen. Sie schreiben auf ihre Plakate “Da müssen wir ran.“ Auf einem Plakat ist eine umgedrehte S-Bahn zu sehen. Wer genauer hinschaut erkennt, dass auf dem Bild keine echte S-Bahn, sondern eine Modellbahn abgebildet ist. Wollen die Grünen den Service im Modellbahnsektor verbessern? Oder soll Märklin die Berliner S-Bahn übernehmen? Pünktlicher wären die sicherlich, aber in Zügen im Maßstab 1:87 könnte es durchaus eng werden.

Eng wird es dann auch am 18. September zur Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses für die Parteien, die keine Sympathiepunkte einheimsen, weil sie nur inhaltliche Leere produziert haben. So hat auch die CDU derzeit nur Negatives zu berichten, eigene Lösungsansätze sucht man vergebens. Die sollen dann angeblich in einem Buch stehen, das auf den Plakaten beworben wird. Merkwürdig nur, dass man keine einzige dieser angeblich „100 Lösungen für Berlin“ auf den Plakaten selbst verraten will. Im Gegensatz zu SPD-Plakaten sind die der CDU dann aber noch vergleichsweise informativ: Die Sozialdemokraten haben Martin Sonneborns Parole „Inhalte überwinden“ konsequent umgesetzt und schreiben auf ihre Plakate nur noch “Berlin verstehen”. Das haben vor der SPD schon Millionen von Menschen versucht, wirklich geschafft hat es wohl noch keiner.

Berlin verstehen, das ist heute auch nicht ganz einfach. Die Mieten steigen, die S-Bahn fährt zu selten, alle reden vom Aufschwung, in Berlin merkt das aber kaum einer. Da gestaltet die SPD ihre Kampagne lieber gleich mal als Fotowettbewerb, damit ist viel illustriert, wenig gesagt. Die netten, in schwarz/weiß gehaltenen Motive lassen eher auf die neue C/O-Ausstellung schließen denn auf eine Partei. Lediglich das Parteilogo erinnert noch daran, dass hier irgendjemand so etwas wie Wahlkampf betreibt. Doch das Logo wirkt auf den Plakaten schon fast wie ein Fremdkörper. Man hätte es konsequenterweise gleich weglassen sollen.

Natürlich kann man auf einem halben Quadratmeter Plakatfläche keine komplizierten Sachverhalte erklären. Das ist auch nicht das Ziel von Wahlwerbung. Dafür gibt es Wahlprogramme, und das Betrachten der Plakate sollte das Studium der Programme nicht ersetzen. Aber Plakate können neugierig machen. Sie können verwundern, verstören, den Betrachter zum schmunzeln bringen. Sie können das Leitbild, den Grundgedanken einer Partei oder konkrete Ziele enthalten. Sie können dafür sorgen, dass der Betrachter irgendwie aus seinem Trott gerissen wird, für einen kurzen Moment innehält und sich denkt: Diese Partei, dieses Programm muss ich mir noch mal genauer anschauen. Aber die aktuellen Wahlplakate, egal welcher Partei, tun das nicht. Sie vermitteln die Botschaft: Wir wollen dieses Ding hier möglichst geräuschlos über die Bühne bringen und sind froh, wenn es dann vorbei ist.

Die Plakate machen lediglich darauf aufmerksam, dass derzeit Wahlkampf herrscht und der Bürger eine echte Wahl hätte. Das ist aber eine Farce: Politiker haben sich mit einer weit verbreiteten Parteienverdrossenheit und Resignation vieler Wähler vielmehr abgefunden, so scheint es. Denn sie wissen: Die Wahl ist gültig, egal wie niedrig die Wahlbeteiligung ist. Und so setzen sie auf ihre Stammwähler, auf die, die immer „ihre“ Partei gewählt haben und das auch weiterhin tun sollen. Wenn alles nach Plan läuft, bekommen alle Beteiligten dann auch das, was sie wollen: Klaus Wowereit als den alten und neuen Bürgermeister, Renate Künast in der Defensive, die im Bund bleibt und Frank Henkel, der dann wohl das erzielt, was die Medien einen „Achtungserfolg“ nennen werden. Damit kann Frank Henkel eigentlich auch ganz zufrieden sein. Nach dem Wahlkampf wird er tief durchatmen und erst einmal fünf Jahre Ruhe haben. Bis es wieder heißt: Wir simulieren einen Wahlkampf in der Hauptstadt.

Taktisch mag das geschickt sein, aber es widerspricht den Grundannahmen einer Demokratie. Im Grundgesetz steht, dass Parteien „bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken.“ Parteien, die sich diesem Auftrag verweigern, indem sie Wahlkampf wie derzeit in Berlin betreiben, machen sich selbst überflüssig und riskieren, dass sich Wähler extremen Gruppierungen zuwenden. Man entwickelt schon fast Verständnis für Leute, die sich „Thilos (zensierten) Thesen“ (Pro Deutschland) oder dem „Guten Heimflug“ (NPD) anschließen. Das ist eine traurige Entwicklung. Parteien, denen das Konkrete in der Politik abhanden kommt und denen inhaltliche Debatten allem Anschein nach als lästig erscheinen, sollten sich dringend fragen, wie lange sie es sich noch erlauben können, der von ihnen eigentlich doch so geschätzten demokratischen Kultur in diesem Land einen Bärendienst zu erweisen.

geschrieben im September 2011 – erstmals erschienen auf polli-magazin.de